Der Lauf der Zeit

 




Der Lauf der Zeit

17 Jahre. 204 Monate. 6205 Tage. Ein paar Stunden und ein paar Minuten. Und jetzt, wo ich vor euch stehe, verstreichen immer mehr Sekunden. Der Timer nimmt zu. Der Timer für was? Bis ich endlich erwachsen bin? Bis ich das Zeitliche segne?

Es ist immer bis und nicht seit.  17 Jahre, 204 Monate und 6205 Tage seit ich das Licht der Welt erblicken durfte. Musste? Konnte? Schreiend, wie vermutlich die Mehrheit hier. Schreiend weil der Sauerstoff in unseren Lungen brannte, oder schreiend, weil wir als winziges Wesen schon wussten, wie schrecklich diese Welt werden kann? Nur erinnern wir uns möglicherweise nicht einmal daran.

Vor 14 Jahren hätte mich mein mini ich nun mit staunenden Augen angesehen. Dass ich so denken kann, ein so weites Bild der Welt besitze, die Philosophie des Lebens und des Menschen hinterfrage. Dass ich hier so wortgewandt stehe, und diese große, weite Welt auf einmal nur auf einen Raum beschränkt ist. Das hätte sie nicht verstanden. Sie hätte auch nicht verstanden, wie ihre kleinen Hopser beim Ballettunterricht zu einem Solo auf der Bühne werden. Sie hätte nicht verstanden, wie die Welt plötzlich so anders in ihren Augen wurde, so grausam, ängstigend jedoch auch wundervoll und emotional.

Vor 9 Jahren hätte das freche Kind mich angeguckt und hätte mir nicht geglaubt, dass wir ein und dieselbe Person sind. Sie hätte nicht geglaubt, dass es bei Konflikten eine andere Lösung als Gewalt gibt, hätte nicht geglaubt, dass man ihr auch anderswo als nur zu Hause Liebe entgegenbringt. Ganz sicher hätte sie aber nicht erwartet, dass ihre Bücher die sie geschrieben hat mit einer Seite pro Kapitel, mal etwas ganz Großes werden. Sie hätte nicht gedacht, dass sich ihre Fähigkeiten im Schreiben wirklich erfolgreich weiterentwickeln, und sie würde mir nicht glauben, wenn ich ihr sage, dass wir wirklich ein eigenes Buch rausbringen werden. Sie würde es für eine Lüge halten, dass ihre unbeholfenen Stepptanzschritte nun eine ganze eigene Klasse anführen. Was sie allerdings mögen würde, wäre das hier. Sie steht im Mittelpunkt, alle Augen und Ohren auf sie gerichtet, sie hat die volle Aufmerksamkeit auf ihrer Seite. Sie würde es lieben. Ich bezweifle auch kein bisschen, dass sie versuchen würde, mir das Rampenlicht zu stehlen, wenn sie heute hier wäre. Was sie mir allerdings tatsächlich abgekauft hätte, ist, dass wir immer noch ziemlich unfähig in Mathe sind.

Vor 3 Jahren hätte mich der rebellische Teenager angeschrien, ich solle lieber meinen Mund halten, bevor ich etwas sage, was ich bereuen würde. Dabei versucht sie sich nur selbst zu schützen. Sie würde mir nicht glauben, dass es uns gut geht, würde nicht fassen, dass es ihr gut gehen wird. Sie würde mir nicht glauben, dass sie Menschen hat die zu ihr stehen. Vermutlich will sie es einfach nicht glauben. Vermutlich versucht sie jegliche Aussage von mir zu ignorieren, die ihr sagt, dass ihr Zukunft geplant ist, und dass sie so unglaublich viel erreicht hat und auf sich stolz sein kann. Sie würde vermutlich nicht hinhören wollen, weil sie dann weiß, dass all diese Tränen nicht ihr Ende bedeuten. Sie fühlt sich so allein, so in einem dunklen Loch gefangen, dass ihr jegliches Gesagte albern und nicht möglich vorkommen würde. Also meine süße Maus, da du wahrscheinlich nicht mit mir reden würdest, hör einfach zu. Denn ich weiß, dass auch wenn Leute denken, dass du unerreichbar bist, du alles hörst und du nur versuchst die Schreie in dir verstummen zu lassen. In 3 Jahren wirst du hier stehen und all diesen Leuten hier diesen Text vortragen, den du vor einiger Zeit an deinem Laptop geschrieben hast, so wie viele andere Stories. Auf deinem Laptop werden deine Uniunterlagen sein, denn ja, du ziehst dein Abi durch und beginnst ein Fernstudium. Ich bin in Absprache mit unserem Zukunfts-wir, dass wir in deiner Zeit in 5 Jahren irgendwo in Edinburgh hocken und Kommunikationswissenschaften studieren. Davor wirst du hoffentlich zwei so tolle Praktika in dem Bereich abschließen, die dir so viel Spaß machen werden. Doch lass mich dir das Wichtigste sagen, also hör genau zu: Du wirst wieder ein Sonnenschein sein. Und du wirst so viel Sonne in dir tragen, dass du nach außen hin strahlst. Das Gewitter in dir wird enden, und das schon bald.

Vor 2 Jahren hätte mich ein stilles Mädchen angeguckt. Sie hätte nicht viel gesagt, was ungewöhnlich für sie ist, denn eigentlich hat sie immer was zu sagen. Ich hätte ihr auch nicht viel zu sagen, wenn ich ehrlich bin. Ich würde sie in eine Umarmung ziehen, denn ich weiß, dass es das ist, was sie braucht. Es wäre ein stilles Wissen. Mein Wissen, dass sie es gerade erst hinbekommen hat, dass ihre Welt wieder heller und bunter wird und ihr dann einer ihrer wichtigsten Menschen genommen wird. Ihr Wissen, wer ich bin und dass ich über ihre nächsten Jahre Bescheid weiß, dass ich trotz allem hier stehe. Ich würde ihr nur sagen, dass alles okay sein wird und wir Seelenfrieden mit dem Tod schließen, soweit es eben möglich ist.

Vor einem Jahr hätte mich die junge Erwachsene vermutlich am Arm gepackt und mit sich gezogen. Ich hätte vermutlich nicht einmal die Chance zu Wort zu kommen. Sie würde losplappern, wie toll eine Typveränderung ist, würde ständig auf ihr Nasenpiercing hinweisen, tausendmal davon berichten, wie toll es doch war, als ihre beste Freundin ihr Strähnen ihres Haares gefärbt hat, und sie würde nur noch davon reden, wie viele Tattoos sie möchte. Vermutlich sollte ich euch jetzt sagen, dass ich beschwichtigend auf sie einreden würde und ihr sagen, dass Tattoos vielleicht ein wenig übertrieben sind, doch ich schätze meine zwei Tattoos die meine Haut jetzt zieren, würden das Gegenteil behaupten. Zu meiner Schande würde ich sie vermutlich auch noch ermutigen ihr eigenes Ding durchzuziehen.

Und jetzt stehe ich hier, so wie viele tausend andere Zukunfts-Ichs vor mir. Und ihr sitzt hier, wie viele andere Zukunfts-Ihr vor euch. Wohlmöglich drehen jetzt alle die Augen und sagen, es war eine schlechte Idee hier zu sein, oder sie lächeln, weil sie wissen, was noch vor uns liegt. Würde ich meinem Zukunfts-ich begegnen, würde ich glaube ich nicht mehr aufhören Fragen zu stellen. Dabei ist es vielleicht besser im Jetzt zu handeln und dieses Handeln zu schätzen. Jetzt stehe ich hier. Jede Entscheidung die man im Leben trifft, jeden Weg den man geht, hat eine Auswirkung auf unser Leben. Ihr habt die Entscheidung getroffen mir zuzuhören. und allein das hat euer Leben verändert. Und zwar nicht, weil ich so überzeugt von mir bin, sondern vielmehr, weil ihr diesen Text verinnerlicht habt. Auch eure Vergangenheits-ichs, und auch eure Zukunfts-ichs schreiben eure Geschichte, so fragt euch was würden sie zu euch sagen? Fragt euch dies aber handelt nicht danach. Würde ich auf das freche Kind hören, wäre ich jetzt ziemlich unbeliebt, beim Teenager wäre ich so viele Schritte gar nicht erst gegangen und ich bezweifle auch, dass meine Zukunfts-ichs immer noch zu 100% meine Ansichten vertreten.

Aber ich tue es. Mein jetziges Ich. Und das zählt. Habt eure beiden Personen im Hinterkopf, sie vervollständigen euer Leben, doch ihr entscheidet mit ihnen darüber.

Wählt euren Weg.

Der Timer läuft.


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